DER BETRIEB
Reform des ArbZG: Flexibilität und Arbeitnehmerschutz
Arbeit 4.0 – wie wär's mit konkreten Vorschlägen?

Reform des ArbZG: Flexibilität und Arbeitnehmerschutz

Arbeit 4.0 – wie wär's mit konkreten Vorschlägen?

Prof. Dr. Wolfgang Däubler

Alle Welt redet von Digitalisierung. Die Suchmaschine Google findet in 0,5 Sekunden insgesamt 13,6 Mio. Stellen, an denen dieser Begriff auftaucht. Auch die Art zu arbeiten ist erfasst. Das eingängige Schlagwort von der Arbeit 4.0 macht bei aller Unschärfe eines deutlich: Es wird eine andere Arbeit als die sein, die wir aus der Vergangenheit kennen.

Prof. Dr. Wolfgang Däubler
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Schon in der Gegenwart hat sich vieles verändert. Die traditionelle Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung, von Arbeit und arbeitsfreier Zeit verschwimmt immer mehr. Wer das Bürogebäude oder die Fabrikhalle verlässt, kann heute nicht mehr sicher sein, damit die Arbeit effektiv hinter sich gelassen zu haben. Auf Smartphone und Tablet Computer kann er jederzeit kontaktiert werden. Und nicht nur das: Er ist auch in der Lage, sofort mit der Arbeit zu beginnen. Dasselbe gilt selbstredend für den häuslichen PC..

Diese technischen Möglichkeiten eröffnen sich in einer Situation des weltweiten Wettbewerbs. Dieser zwingt die Unternehmen, möglichst kostengünstig zu produzieren. Angesichts der relativ hohen Lohnkosten in Deutschland werden nur so viele Menschen eingestellt wie unbedingt erforderlich. Ihr Arbeitspensum tendiert deshalb häufig dazu, den schönen Traum von der 40-Stunden-Woche auf den St. Nimmerleinstag zu verschieben. Von der 35-Stunden-Woche ist nicht mehr die Rede; die symbolische Sonne, die einst auf vielen Plakaten zu sehen war, ist nicht aufgegangen. Die durchschnittliche Arbeitszeit liegt irgendwo zwischen 42 und 43 Wochenstunden. Nicht eingerechnet sind dabei in der Regel die Stunden, die man zu Hause oder unterwegs mit Arbeit verbringt. Nur bei einem offiziellen Homeoffice oder einem Telearbeitsplatz gilt Abweichendes.

Nicht alle Menschen vertragen diese neue Umwelt. Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt kontinuierlich an; dasselbe gilt für den Burnout. Besonders gefährdet sind Menschen, die dauernd erreichbar sein müssen.

Ein Blick in die Zukunft

Wie wird das Arbeitsleben in zehn oder zwanzig Jahren beschaffen sein? Bei vielen ist die Unsicherheit beträchtlich. Roboter werden heute noch relativ selten eingesetzt, weil es sich meist um teure Sonderanfertigungen handelt – aber wird das immer so bleiben? Kann ein mit künstlicher Intelligenz ausgestatteter Roboter nicht die Arbeit vieler Menschen ersetzen? Werden am Ende nur noch einige wenige System-Konstrukteure und ein oder zwei Reparaturkolonnen übrig sein?

Autonomes Fahren ist ohne Menschen am Steuer denkbar. Werden Lkw-Fahrer definitiv überflüssig? Wie viele Menschen benötigt man noch, wenn man immer häufiger einen 3D-Drucker einsetzt? Schließlich kann dieser schon heute so unterschiedliche Dinge wie Werkzeuge, Maschinenteile, Sportschuhe und Schmuck herstellen. Oder nehmen wir den Personalbereich: Eine US-Firma bietet „Erkenntnisse“ an, die aus der Analyse einer unübersehbaren Zahl von Daten („big data“) gewonnen wurden. Wer fünf Jahre lang nicht befördert wurde und keine Gehaltserhöhung bekam, hat – so eine wichtige Aussage – kein Entwicklungspotential mehr. Die Firma sollte sich möglichst schnell von ihm trennen. Welcher Personalleiter wird in der Lage sein, sich gegen das „System“ mit dem Argument durchzusetzen, der Arbeitnehmer erbringe eine gute Leistung, er strebe nur nicht nach Höherem, weil ihm das zu viel Stress bringe?

Crowdworking ist in Deutschland keine Massenerscheinung, aber kann das nicht in zehn Jahren anders sein? Wer sich im Netz verdingt, wird heute meist zum Soloselbstständigen. Brauchen wir nicht einen neuen Arbeitnehmerbegriff, der in erster Linie nach dem Schutzbedarf fragt?

Der Weg in die veränderte Arbeitswelt

Was hier skizziert wurde, hat mit Schwarzmalerei nichts zu tun. Es handelt sich um wohlbekannte Risiken, die die Digitalisierung mit sich bringt. Dass es auch viele Chancen gibt, dass die Produktivität enorm steigen wird und deshalb die Arbeitszeit kürzer sein könnte als heute, ist ebenso unbestreitbar. Die meisten Arbeitnehmer sehen auch diese Möglichkeiten. Ihre Haltung lässt sich als ambivalent charakterisieren.

Die Digitalisierung wird nur dann zum Erfolgsmodell, wenn (fast) alle mitziehen. Viele neue Arbeitsformen erhöhen die Spielräume für den Einzelnen und für Gruppen. Hier ist Loyalität zum Unternehmen gefragt – und nicht etwa Freude an einem schwer nachweisbaren „Dienst nach Vorschrift“. Die Wirtschaft wird in Zukunft eher mehr als weniger Innovationen brauchen – auch sie kommen nur zustande, wenn die Beschäftigten die Arbeit als die ihre begreifen.

Doch mit solchen Einschätzungen ist es nicht getan. Es muss konkrete Angebote geben, wie die neue Arbeitswelt aussehen soll. Der Vorschlag der Arbeitgeberseite, den Arbeitszeitschutz abzubauen und den Acht-Stunden-Tag aufzugeben, passt hier wie die Faust aufs Auge. Menschen, die eh schon unter Stress stehen, sollen einen Teil ihres heutigen Schutzes verlieren, damit die Telefonkonferenz mit den Geschäftspartnern in anderen Zeitzonen reibungsloser ablaufen kann. Das ist eine ganz, ganz enge betriebswirtschaftliche Brille, die den Blick aufs Ganze versperrt.

Zunächst zum Acht-Stunden-Tag: Er ist eine 1918 erreichte soziale Errungenschaft und ein Symbol, das seither nie aufgegeben wurde. Natürlich ist man dem Bedürfnis nach Flexibilisierung entgegengekommen und kann am einzelnen Tag bis auf zehn Stunden gehen. Und man kann dies nicht nur gelegentlich tun: Auch eine 60-Stunden-Woche ist legal, wenn man in einem Zeitraum von sechs Monaten den Durchschnitt von 48 Stunden nicht überschreitet. Aus dem realen ist ein statistischer Acht-Stunden-Tag geworden. Nun soll auch er nicht mehr weiter bestehen – das schafft bei den Beschäftigten keine guten Gefühle für das, was in absehbarer Zeit auf sie zukommen wird. Die Elf-Stunden-Ruhezeit soll zur Disposition stehen – auch das ist nicht gerade eine vertrauensbildende Maßnahme.

Nun wäre es sehr viel schwieriger, gegen diese Position zu argumentieren, wenn neben ihr „positive Angebote“ stehen würden. Das Arbeitszeitrecht hat u.a. die Funktion, die Inanspruchnahme der Arbeitskraft zu beschränken. Wie wäre es, wenn man andere Mittel anbieten würde, die dieselbe Funktion erfüllen? Könnte man die Arbeitsmenge vielleicht über ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats und des Personalrats begrenzen oder in geeigneten Bereichen wie in der Pflege „Besetzungsregeln“ einführen? Wer sicher sein kann, nur Arbeit zu bekommen, die in 40 Wochenstunden zu bewältigen ist, wird einer weiteren Flexibilisierung offener gegenüber stehen. Warum nicht am Sonntag Nachmittag die E-Mails checken oder spät Abends skypen? Das ist aber so lange inakzeptabel, wie man Montag bis Freitag erst irgendwann zwischen 18 und 20 Uhr nach Hause kommt. Warum gibt es insoweit kein Angebot der Arbeitgeberseite?

Ein weiterer Punkt ist die Qualifizierung für neue Aufgaben. Verständliche Ängste werden abgebaut, wenn man weiß, dass man umfassend auf veränderte Tätigkeiten vorbereitet wird und sich nicht durch Rückfragen bei Kollegen und durch „trial and error“ irgendwie „durchwursteln“ muss. Je besser die Beschäftigten neue Aufgaben bewältigen können, umso höher die Produktivität. Warum gibt es hier keine Angebote? Maßnahmen, die beiden Seiten nützen, müssten doch möglich sein. Es wird ja nicht erwartet, dass jede Betriebsänderung der vollen Mitbestimmung unterworfen wird – die Arbeitnehmerseite ist sehr pragmatisch geworden.

Der derzeit gewiss nicht arbeitnehmerfreundliche französische Gesetzgeber verpflichtet die Betriebsparteien, Zeiten für die Nichterreichbarkeit der Beschäftigten festzuschreiben („droit à la déconnexion“). Auch dies ist keine Regelung, die den Unternehmen wirklich weh tut – aber sie sorgt dafür, dass Freizeit nicht effektiv verloren geht, dass die Arbeit nicht das gesamte Leben überlagert. Menschen, die dauernd erreichbar sind, tragen ein besonders hohes Burnout-Risiko. Warum will man dem nicht entgegen wirken?

Hoffnung auf die Bundesregierung?

In der letzten Legislaturperiode hat die Bundesregierung zunächst ihr Grünbuch „Arbeiten 4.0“ vorgelegt und damit bewusst einen breiten Diskussionsprozess initiiert. Dies ist eine sicherlich beifallswerte Vorgehensweise, was sich nicht zuletzt auch in der breiten Beteiligung widerspiegelte. Das am Ende und gewissermaßen als Ergebnis vorgelegte Weißbuch „Arbeiten 4.0“ ist demgegenüber enttäuschend: Um sich gegen niemanden zu stellen und um sich selbst auf keinen Fall zu irgend etwas zu verpflichten, flüchtet man in die Abstraktion. Eine Ausnahme wurde nur bei der Arbeitszeit gemacht, wo man durch Experimente klären will, wie eine weitere Flexibilisierung beschaffen sein und wirken könnte.

Der aktuelle Koalitionsvertrag begnügt sich mit kleinteiligen Reformen. Für die großen Aufgaben ist die Koalition offensichtlich nicht groß genug. Aus Fernost erhielt ich vor kurzem die Anfrage, wann denn der deutsche Arbeitnehmerbegriff mit dem zentralen Element „Weisungsabhängigkeit“ entstanden sei. Ob sich seit damals nicht die Verhältnisse geändert hätten? Im „Weißbuch“ nach einer Antwort zu suchen, habe ich nicht versucht. Wie macht man einen Apparat mit vielen Akteuren lernfähig? Dies zu untersuchen, wäre ein lohnendes Forschungsprojekt. Ob man nicht dafür ein wenig mehr Geld ausgeben sollte?