DER BETRIEB
Gedanken eines lesenden Steuerzahlers

Gedanken eines lesenden Steuerzahlers

Univ.-Prof. (em) Dr. Dr. Manuel R. Theisen

Von dem römischen Schriftsteller Titus Maccius Plautus stammt der Aphorismus: „Homo homini lupus est“, der Mensch ist dem Mensch ein Wolf. Bei dem Zusammenwirken von Legislative, Judikative und Exekutive im steuerlichen Bereich kommt dieser, vom Philosophen T. Hobbes aufgegriffenen, Attitüde immer wieder nachhaltig Bedeutung zu: Aus teilweise erschreckenden Anlässen, wie dies jüngst zwei völlig unterschiedliche steuerrechtliche Aktionen, einerseits der Exekutive, andererseits der Legislative bestätigen.

Univ.-Prof. (em) Dr. Dr. Manuel R. Theisen
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Die Besteuerung der weltweiten digitalen Aktivitäten musste früher oder später international wie national ein Thema werden. Zu groß sind zwischenzeitlich die mit den Händen zu greifenden, aber eben steuerlich auf der Basis national oder bilateral geltenden, historischen Steuerrechts nicht zu erlangenden potenziellen Bemessungsgrundlagen, die im Cyberspace ja nicht nur vermutet, sondern konkret zu beobachten sind. Die Bayerische Finanzverwaltung glaubt nun, eine Art Ersatzschuldner mit Hilfe einer hinreichend „originellen“ Interpretation vorhandener steuerrechtlicher Bordmittel gefunden zu haben. Dieser Zugriff erfolgt im Rahmen von Betriebsprüfungen, bei denen die Steuerpflichtigen rückwirkend keinerlei Gestaltungs- oder auch nur Reaktionsspielraum zusteht. Millionenbeträge an (unstreitig) objektiv nicht erkennbaren Steuernachzahlungen könnten die Folge sein: Nicht nur im Einzelfall ein amtlich ausgelöster Insolvenzantrags-Grund.

Rückwirkende, den Steuerpflichtigen begünstigende Ereignisse sind nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen des § 175 AO steuerlich zu berücksichtigen. Das FG Hamburg hatte im Sommer 2018 eine solche Rechtslage zu beurteilen und entsprechend entschieden. Nur wenige Monate später wurde der Urteilstenor zur zwingend gebotenen Berücksichtigung eines (echten) rückwirkenden Ereignisses im entschiedenen Fall ausdrücklich im EGAO aufgenommen, somit geltendes Recht nochmals zu geltendem Recht erklärt. „Doppelt genäht hält besser“ könnte eine schwäbische Hausfrau kommentieren. Der Gesetzgeber aber wollte damit keinen Vorteil bestätigend festschreiben, sondern schlicht und einfach stark verkürzen.

Vom Steuerverfahrensbeteiligten zum Verfahrensopfer

Der Vorstoß der bayerischen Finanzverwaltung, der derzeit zu Überprüfung auf Bundesebene diskutiert wird, muss – ungeachtet der m.E. ausnahmslos unzutreffenden steuerrechtlichen Begründungsansätze –, als eine wohl beispielslose amtliche Attacke auf unbehelligte Steuerpflichtige bezeichnet werden: Zahlreichen bayerischen Unternehmern wurden (und werden, wie zu befürchten ist) für Zeiträume bis 2012 (!) Steuernachforderungen auf der Basis von §§ 49, 50a EStG festgestellt und das vergleichbare fortgesetzte Nacherhebungsverfahren bis in die Gegenwart zugesichert. Solchermaßen rückwirkend zum (Ersatz-)Steuerzahler für große, international digital werbetreibende Gesellschaften erklärt, führen diese, in keiner Weise von ihnen und ihren Beratern – aber eben auch noch nicht einmal von der Finanzverwaltung – seinerzeit auch nur angedachten Steuerpflichten, nicht selten sogar bis zur Insolvenzantragspflicht: Ihr kann durch den zweifelsohne zwingend gebotenen Einspruch gegen diese Erhebungswillkür nicht in jedem Fall wirksam begegnet werden.

Das wirklich Erschreckende an diesen vielfach aus der Praxis berichtetem Vorgehen der süddeutschen Finanzverwaltung ist aber der Versuch, eine Besteuerungsidee, über deren Qualität in der Tat erst anderernorts zu entscheiden sein wird, auf dem Weg von Betriebsprüfungen (erstmals) gegen Steuerpflichtige zu exekutieren, die vollkommen ahnungslos von solchen steuerlichen Abführungspflichten waren und auch sein konnten, denn niemand – und auch das ist unstreitig – hatte vor mehr als fünf bzw. sechs Jahren nach durchschlagenden Besteuerungsansätzen für digitale Leistungen im nationalen Steuerrecht gesucht. Dennoch sollen die Unternehmen jetzt hohe, meist ein- bis zweistellige Millionenzahlungen leisten müssen, ihre jeweilige wirtschaftliche, namentlich finanzielle Situation wird offenbar als vertretbarer Kolateralschaden für diesen innovativen Besteuerungsansatz betrachtet.

Alle Versuche, auf Landesebene zu einer tragfähigen alternativen Lösung der kreativen Ersatzbesteuerung zu kommen, sind dem Vernehmen nach gescheitert. Und dies trotz der unübersehbaren „Vertreter-Haftung“ in die die werbetreibenden bayerischen Unternehmen hier seitens der zuständigen Finanzverwaltung genommen werden: Eine Rückforderung der, vom deutschen Fiskus eingesammelten Vorauszahlungen bei den digitalen Multis ist ein Treppenwitz. Der Hinweis verhöhnt die geschädigten Steuerpflichtigen.

Rechtsfrieden statt Gleichbehandlung

Der zweite, hier aufzurufende Fall besitzt weder eine vergleichbare wirtschaftliche Sprengkraft noch wirkliche Breitenwirkung. Dennoch erscheint er ebenfalls (leider) sehr geeignet, die bescheidene Stellung des Steuerzahlers im Zusammenspiel der verfassungsmäßigen Rechtsordnung und Gewaltenteilung aufzeigen und charakterisieren zu können.

Nachdem 2017 der Gesetzgeber („Ehe für alle”) alle eingetragenen Lebenspartnerschaften der Ehe gleichgestellt hatte, klagten betroffene, bislang einzelveranlagte Steuerpflichtige, um auch steuerlich diesen „Gleichstand von Anfang an” erlangen zu können. Da durch eine BVerfG-Entscheidung aus dem Jahr 2013 bereits alle im konkreten Einzelfall noch offenen, also abänderbaren Steuerbescheide dementsprechend angepasst werden konnten, blieb dieser Weg aber bereits früher verpartnerten Gemeinschaften bis zu diesem Zeitpunkt insoweit verschlossen. Das angerufene FG Hamburg entschied, namentlich unter mehrfachem wörtlich zitierten Hinweis auf die gesetzesbegleitenden Materialien, dass diese Rechtslage unstreitig ein „echtes rückwirkendes Ereignis” darstelle, das nach § 175 AO (auf Antrag) von Beginn der jeweils eingegangenen Lebenspartnerschaft zur Zusammenveranlagung führen müsse.

Überraschenderweise wurde die (zugelassene) Revision zum BFH seitens des FA zurückgenommen. Stattdessen wurde in § 9 EGAO im Rahmen des UStAVermG gesetzlich festgesetzt, dass § 175 AO in den streitigen Fällen anzuwenden sei, soweit die antragsberechtigten Steuerpflichtigen bis zum 31.12.2019 geheiratet hätten (!) und bis zum 31.12.2020 einen entsprechenden Abänderungsantrag gestellt haben werden. Danach, so die Gesetzesbegründung allen Ernstes, solle Rechtsfrieden herrschen. Im Klartext: Wer später heiratet, hat eben Pech gehabt. Offiziell wird dann noch die Begründung nachgeschoben, ein noch längere Zeit laufender Rechtsanspruch ließe sich mit den amtlichen Aufbewahrungsfristen sowie den eingeschränkten Möglichkeiten der Abänderung von Steuerbescheiden nicht mehr gewährleisten. Und bei den Ausführungen zum gesetzlich bedingten „Erfüllungsaufwand” dieser Rechtsverkürzung wird offen spekuliert, man könne nicht abschätzen, wie viele den erforderliche Antrag „rechtzeitig” stellen würden.

Fiskus first?

Die jüngsten Ansätze der Finanzverwaltung wie der Steuergesetzgebung sind nicht geeignet, den Steuerpflichtigen zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Fiskus anzuhalten und ein überzeugter Steuerbürger zu bleiben: Er muss den fiskalischen Wolf allerdings erkennen können.