DER BETRIEB
70 Jahre TVG – nach wie vor modern und nicht klein zu kriegen

70 Jahre TVG – nach wie vor modern und nicht klein zu kriegen

RA Alexander R. Zumkeller, MBA

Vom 09.04.1949 ist das Tarifvertragsgesetz. Damit ist es 70 Jahre alt – oder jung, nicht unumstritten, und ziemlich einzigartig in Europa und auf der Welt. Taugt dieses Gesetz, das sogar etwas älter als die Bundesrepublik ist, überhaupt noch?

RA Alexander R. Zumkeller, MBA
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Der Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets der britischen und amerikanischen Wirtschaftszone hat das TVG aus der Taufe gehoben. In manchen Diskussionen – insbesondere mit Unternehmensvertretern aus den USA – muss man dies ob des häufigen Unverständnisses durchaus erwähnen (wie die Betriebsverfassung und Montanmitbestimmung im Übrigen ähnliche Wurzeln haben). Und eigentlich hat es sich im Lauf der Jahre gar nicht so dramatisch geändert. Es hat sich also „gut gehalten“ – auch, wenn es einiges durchmachen musste!

Auch die Zahlen überzeugen: In 2017 wurden knapp 6.000 Tarifverträge neu registriert, insgesamt waren 37.000 Tarifverträge gültig. Das war vor 70 Jahren sicher nicht absehbar.

Trennung betrieblicher und außerbetrieblicher Konflikte als Erfolgsmodell

Eine recht einzigartige Lösung im Vergleich zu vielen anderen Rechtsordnungen hat dieses Gesetz gefunden, was die Austragung von Konflikten angeht: Abschluss-, Inhalts- und Betriebsnormen im Tarifvertrag, wobei der Konflikt typischerweise außerhalb des Betriebs zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband im Streik ausgefochten werden sollte (wenngleich es den Phänotyp des Arbeitgebers als Tarifpartei bereits 1949 gab und damit die negative Koalitionsfreiheit manifestierte), und daneben (nur einen Tag später, am 10.04.1949 durch das Kontrollratsgesetz Nr. 22 eingeführt, das „Betriebsrätegesetz“) die betriebliche Mitbestimmung mit der Konfliktlösung im Betrieb und dem in Deutschland besonderen System der Einigungsstelle, und, um das Triptychon zu vervollständigen, die Unternehmensmitbestimmung seit Mitte 1951 mit rein demokratischer Konfliktlösung.

Während sich die Unternehmensmitbestimmung (dann im Mitbestimmungs- und Drittelbeteiligungsgesetz) sowie die Betriebsverfassung (zunächst 1952, und dann unter großer Diskussion um die Verfassungsgemäßheit 1972) erheblich fortentwickelt haben, ist das Tarifvertragsgesetz im Kern unverändert geblieben. Vielleicht liegt das an der erfreulichen Klarheit des Gesetzes: „Der Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können.“ Seit 70 Jahren ein unveränderter § 1.

Probleme „rund um das TVG“ stammen nicht vom TVG selbst – sondern haben sich aus Randfaktoren entwickelt:

Ein Problem ist die Regelungsdichte. Tarifverträge – oder mittlerweile besser: Tarifwerke – umfassen gerne einmal deutlich mehr als 100 Seiten und 200 bis 300 Einzelnormen. Das führt dazu, dass man alleine für das Tarifwerk einen eigenen Hausjuristen benötigt. Nicht ohne Grund gibt es in vielen Arbeitgeberverbänden daher auch zwei „Abteilungen“ – eine Tarif- und eine Arbeitsrechtsabteilung. Die eine kümmert sich um die tariflichen Normen, die andere um das „übrige“ Arbeitsrecht. Von der Grundidee, Mindestnormen zu schaffen, geht das schon ein Stück weg. Wobei die Frage ist, ob Henne oder Ei zuvor da waren: Die Regelungsdichte der Arbeitsgesetze nimmt dramatisch zu und hier noch „Lücken“ für tarifvertragliche Regelungen zu finden, ist eben die Profess der Tarifparteien. Ein Plädoyer also für Deregulierung des Gesetzeswerks – zugunsten stärkerer Regelungsmöglichkeiten durch die Tarifparteien.

Ein weiteres Problem liegt im Tarifniveau. Es ist anzuerkennen, dass die Tarifparteien in schwierigen Zeiten hervorragende Lösungen gefunden hatten. Aber im Allgemeinen regelt das Tarifwerk nicht Mindestbedingungen, die sich jeder Marktbegleiter einer Branche leisten kann, sondern sehr hohe Standards – was einerseits dazu führt, dass die Spielräume der innerbetrieblichen zusätzlichen Verteilung gegen Null geschrumpft sind, zum anderen zu dem, was gerne „Tarifflucht“ genannt wird und im Ergebnis nichts anderes ist als eine Wettbewerbsverzerrung.

Gesetzliche Kartellierung – Fluch und Segen

Damit kommen wir zu einem wesentlichen Punkt: Tarifverträge sind Kartelle. Es handelt sich um gesetzlich geregelte und daher zulässige, aber dennoch eben Kartelle.

Sie sind durchaus nützlich: Denn wenn ein wesentlicher Faktor – die Arbeitsbedingungen – in einer Branche kartelliert ist, wird der Wettbewerb über andere Faktoren als Entgelt betrieben: Innovation, unternehmerischer Mut, Besetzung von Nischen, besonderes Know-how. Allerdings – im 21. Jahrhundert kommen die „Angriffe“ von außen – ist Logistik kein ernsthafter Kostenfaktor, Zölle sind perdu, die Welt ist der Marktplatz. Und der kümmert sich reichlich wenig um nationale Tarif- und Sozialpolitik.

Gesetzgeberische Eingriffe – die Krise

Sogenannte Spartengewerkschaften und das Bundesarbeitsgericht mit seiner Entscheidung vom 27.01.2010 hatten das TVG – oder besser: die vom BAG in jahrzehntelanger Rechtsprechung gehütete Tarifeinheit im Betrieb – in Verruf gebracht.

Ohne Not, zumindest zum Teil, weil Tarifpluralität funktionieren kann. Und zwar, wenn und soweit die Geltungsbereiche von Gewerkschaften und den geltenden Tarifverträgen hinreichend abgegrenzt sind, gibt es keine Tarifpluralität, die es zwingend aufzulösen gäbe (und in etlichen Branchen funktioniert diese Art der Tarifpluralität seit Jahrzehnten).

Und der Gesetzgeber wollte agieren. Nur leider eher politisch denn mit hinreichendem Sachverstand. Selbst der juristische parlamentarische Dienst hatte vor der dann gefundenen Lösung gewarnt. Die Literatur war sich selten uneinig. Nur – politisch meinte man, eingreifen zu müssen. Und das letztendlich mit dem stärksten Schwert – Eingriff in die Tarifautonomie und am langen Ende in das Streikrecht.

Die Geschichte kennen wir alle. Eine vorhersehbare Nachbesserung der Gesetzesänderung musste gerichtlich erzwungen werden. Und dabei hatte und hat die Neuregelung nicht einmal das eigentliche Problem – insbesondere das Tarifwirrwarr in den Bereichen des Nah- und Fernverkehrs – gar nicht in den Griff bekommen. Und nun werden wir wieder 10 oder 20 Jahre warten müssen, bis die Gerichte eine verlässliche Kasuistik entwickelt haben zu der Frage, in welchen Fällen die Interessen der sog. Minderheitengewerkschaft bei Tarifabschlüssen „hinreichend Berücksichtigung“ fanden. Rechtssicherheit geht anders!

Die Zukunft – duster bis hoffnungsfroh

Das TVG sieht sich einigen Angriffen ausgesetzt, und wir werden sehen, wie es diesen widerstehen können wird:

Angriff 1: Mindestlohn. Es soll dahingestellt bleiben, ob ein Mindestlohn politisch opportun ist oder nicht. Tatsache ist, dass Lohnpolitik Sache der Tarifparteien ist. Und ausschließlich deren Sache. Der Mindestlohn stellt die eine oder andere Branche vor die Frage, ob überhaupt ein Tarifvertrag verhandelt werden muss oder nicht, wenn ohnedies der Gesetzgeber agiert. Letztlich führt dies dazu, dass auch den Gewerkschaften weniger Mitglieder zugeführt werden – denn: Warum Mitglied werden (und notabene Beiträge, die gar nicht so gering sind, zahlen), wenn es der Gesetzgeber richtet?

Angriff 2: „Tarifstärkungsgesetze“. In den letzten Jahren sucht der Gesetzgeber, das Heil der Gewerkschaften darin zu finden, Öffnungsklauseln in Gesetze einzubauen, die nur durch Tarifverträge wahrgenommen werden können. Wenn es immer mehr dieser Gesetze gibt – irgendwann wird der Punkt erreicht sein, an dem die negative Koalitionsfreiheit, durch unsere Verfassung (Art. 9 GG) geschützt, nachhaltig verletzt werden wird –, und wenn vernünftige Regelungen nur noch durch Tarifverträge, aber nicht im Regelungsdickicht der sonst geltenden Gesetze gefunden werden können, ist der jüngste Tag gekommen und das gesetzgeberische Konstrukt der Tarifstärkung zerfällt gesamthaft.

Angriff 3: Tariföffnungsklauseln in Tarifverträgen. Ja, in Maßen vernünftig und auf die individuelle Situation im Betrieb abstimmbare Regelungen. Aber wenn sie überhandnehmen, werden die Transaktionsaufwände in die Betriebe zurückgespült. Und wir erinnern uns: Die Arbeitsbedingungen zu regeln, ist Aufgabe der Tarifparteien – nicht der Betriebsparteien.

Das Plädoyer – und Wünsche für die nächsten 30 Jahre

Gerne ist dem TVG ein hundertjähriges Jubiläum zu wünschen. Was bedarf es dazu? Maßhaltung. Und dies zugleich als Plädoyer eines Betriebspraktikers:

Deregulierung der Gesetze. Das bringt Verhandlungsräume für tarifliche Regelungen – branchenspezifisch und passgenau statt „one fits all“ (was nie stimmt). Und damit: Attraktivität auch für Arbeitgeber, sich dem Tarif zu unterwerfen.

Besinnung der Tarifverträge auf „Mindestbedingungen“. Das bringt Raum für betriebliche Spielräume – ohne die Grundidee des fairen Wettbewerbs innerhalb einer Branche infrage zu stellen. Und damit: Attraktivität auch für Arbeitgeber, sich dem Tarif zu unterwerfen.

Gesetzliche Zurückhaltung „Teil 2“: Das TVG hatte 60 Jahre „gehalten“. Dann kam der gesetzgeberische Eingriff zur Regelung der Tarifeinheit – und hielt nur kurz und löste die wirklichen Probleme nicht. Regeln – nur wo unbedingt notwendig!

Beibehaltung der Trennung der „Gewalten“; ein „Ja“ zu Tariföffnungsklauseln in Tarifverträgen, aber an den maßgeblichen Stellen und ohne Transaktionsaufwände zu erhöhen. Und damit wieder: Attraktivität auch für Arbeitgeber, sich dem Tarif zu unterwerfen.