DER BETRIEB
Der schwierige Weg zum No-Deal-Brexit

Der schwierige Weg zum No-Deal-Brexit

Prof. Dr. Michael Hüther

Das politische Ränkespiel in London hat wieder an Fahrt aufgenommen. Die ehemalige Premierministerin ist zur Hinterbänklerin degradiert und der längst totgesagte Boris Johnson hat sich doch noch seinen Lebenstraum erfüllt. Dabei hat er nicht nur die Regierungsgeschäfte, sondern ebenso den Rattenschwanz der Brexit-Umsetzung übernommen, über den Theresa May seit Monaten gestolpert war.

Prof. Dr. Michael Hüther
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Auch Johnson startet gewissermaßen als „lame duck“. Seine bei Aufnahme der Amtsgeschäfte hauchdünne Mehrheit im Unterhaus stützte sich auf die praktisch unversöhnlichen Unionisten aus Nordirland, hartgesottene Brexit-Hardliner sowie europafreundliche Tory-Abgeordnete. Jegliche Vorschläge zu einem nordirischen Sonderstatus, aber auch Forderungen nach einem harten No-Deal-Austritt aus der EU finden im Unterhaus derzeit genauso wenig eine Mehrheit wie das unterschriftsreife Austrittsabkommen.

Fulminant ist daher bisher lediglich der Auftritt des neuen Regierungschefs in den sozialen Netzwerken sowie die Begeisterung, die er beim US-amerikanischen Präsidenten auslöst. Dieser kann kaum erwarten, dass die Briten endlich die EU verlassen, um ein umfangreiches Freihandelsabkommen zu verhandeln. Schon während des Referendums hatte Boris Johnson immer wieder Erwartungen an ein „Global Britain“ geschürt. Was auch immer das bedeuten soll, die Vision des neuen Premierministers basiert auf einem EU-Austritt: so schnell wie möglich und wenn nötig auch ungeordnet und ohne Deal.

Harter Brexit wäre ein harter Schlag für die Wirtschaft

Für die Unternehmen auf beiden Seiten des Kanals wäre der Übergang des Vereinigten Königreichs zu einem Drittstaat ein harter Schlag. Zwar wäre die viel zu lang anhaltende Unsicherheit dann endlich passé, aber zu welchem Preis: Allein die Zollbelastung für die europäische Wirtschaft würde sich jährlich auf rund 10 Mrd. € belaufen, wie Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigen. Die britischen Unternehmen würden wohl mit rund 5 Mrd. € zur Kasse gebeten. Deutlich spürbar würde die Zollschranke für die exportorientierte deutsche Wirtschaft, die wohl ein Drittel der europäischen Zahlungen leisten müsste. Am härtesten getroffen wäre die deutsche Automobilindustrie. Bei einem Exportvolumen des Jahres 2016 würde allein die Belastung der deutschen Auto–mobilbranche rund 2 Mrd. € betragen.

Teuer würde der harte Brexit nicht nur aufgrund von Zöllen, sondern ebenso durch nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Hierunter fallen beispielsweise die unterschiedlichen Regulierungsanforderungen, mit denen sich die Unternehmen auseinandersetzen müssten. Die entsprechenden Kosten liegen sogar deutlich über den Zollbelastungen und würden auf europäischer Seite 25,8 Mrd. € und auf britischer Seite 14,6 Mrd. € betragen.

Es wird deutlich, dass die No-Deal-Bedrohung für viele Unternehmen substanziellen Charakter haben dürfte. Eine realistische Einschätzung zeigt: im Fall eines harten Brexits könnten sich die Handelsströme auf beiden Seiten halbieren.

Viele Unternehmen haben sich aufgrund der andauernden Unwägbarkeiten der vergangenen Jahre bereits auf die Veränderungen eingestellt. Wertschöpfungsketten sind umgesteuert, Produktionskapazitäten in Kontinentaleuropa ausgebaut. Schon heute sind die Veränderungen deutlich sichtbar. So sind die deutsch-britischen Pharmaexporte heute ganze 40% niedriger als noch 2015 und die deutsche Automobilbranche exportiert knapp ein Viertel weniger als vor dem Referendum. Im Ranking der wichtigsten deutschen Handelspartner sind die Briten zuletzt auf Rang 7 abgerutscht (2015 noch Rang 5). Im Vergleich mit den EU-27-Handelspartnern beläuft sich die Wachstumsdifferenz der deutschen Exporte in das Vereinigte Königreich auf rund 20 Prozentpunkte und die der entsprechenden Importe auf rund 18 Prozentpunkte.

Schauspiel oder geschickte Kalkulation?

Allen Prognosen über die negativen Folgen zum Trotz kokettiert der neue britische Premier öffentlich mit dem No-Deal-Brexit – und hat damit das britische Pfund zunächst einmal auf Talfahrt geschickt. Noch hat Boris Johnson Zeit, mit der EU einen neuen Kompromiss zu finden oder den Austritt weiter nach hinten zu verlegen. Das von Theresa May ausgehandelte Austrittsabkommen lehnt er mit Verweis auf die vermeintliche Geiselhaft ab, in die der „Backstop“ das Vereinigte Königreich manövrieren würde. Nach diesem müsste das Vereinigte Königreich als Ganzes in der Zollunion mit den EU-27 verbleiben – ohne die Möglichkeit, einseitig aus dieser auszutreten. So soll sichergestellt werden, dass an der nordirisch-irischen Grenze keine Kontrollen durchgeführt werden müssen. Dem irischen Friedensprozess ist somit mit breiter Zustimmung aus der irischen Politik und Bevölkerung Vorrang vor den wirtschaftlichen und politischen Fragen des Brexits erteilt worden.

Mit der Vision des britischen Premierministers von einem global Britain ist ein Backstop-Szenario selbstredend unvereinbar. Zur Lösung der Nordirlandfrage setzt Boris Johnson daher auf eine „technische Lösung“. Wenn es vor 50 Jahren möglich gewesen sein soll, auf dem Mond zu landen, dann sollte es heute möglich sein, friktionslosen grenzüberschreitenden Handel zu betreiben, so der Premierminister. So gut die Idee, so schwierig die Umsetzung: Keine einzige Grenze wird derzeit weltweit mit einem solchen System kontrolliert. Zudem: Hätte Johnson tatsächlich Vertrauen in eine solche Innovation, könnte er diese getrost bis Ende 2020 entwickeln und der EU präsentieren. Mit diesem Argument müsste er das Austrittsabkommen eigentlich mit breiter Brust befürworten. Das ist jedoch nicht der Fall.

Da er Zugeständnisse von Seiten der EU-27 nicht zu erwarten hat (wohl noch weniger als die vormalige Premierministerin), wird er früher oder später mit dem britischen Parlament aneinandergeraten. Selbst mit seinen Schauspielkünsten oder Geldgeschenken an Schottland und Wales wird er es schwer haben, genügend Parlamentarier auf seine Seite zu ziehen. Dann bleibt nur noch die Neuwahl des britischen Unterhauses, möglicherweise inklusive Antrag auf Verlängerung der Verhandlungsperiode. Die Karten würden dann neu gemischt und nicht unbedingt mit besserem Ausgang. Die Vorbereitungen in Europa sollten dann abgeschlossen sein.