DER BETRIEB
Hauptversammlung im Homeoffice
COVID-19-Pandemie bringt virtuelle Hauptversammlung

Hauptversammlung im Homeoffice

COVID-19-Pandemie bringt virtuelle Hauptversammlung

Dr. Christian Bochmann, LL.M. (Cambridge) / Dr. Volker Ullrich

Vor dem ernsten Hintergrund der Corona-Krise hat der Gesetzgeber den Weg für die schon seit Längerem geforderte virtuelle Hauptversammlung frei gemacht.

Dr. Christian Bochmann, LL.M. (Cambridge)
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Die weit ausgreifenden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit infolge der Corona-Pandemie drohten jüngst auch die Handlungsfähigkeit deutscher Aktiengesellschaften empfindlich einzuschränken. Denn Aktionäre üben – so der bislang eherne Grundsatz des § 118 Abs. 1 Satz 1 AktG – ihre Rechte in den Angelegenheiten der Gesellschaft in der Hauptversammlung aus. Trotz bereits bestehender Möglichkeiten, unter Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel an Hauptversammlungen teilzunehmen, mussten diese doch stets als Präsenzveranstaltungen abgehalten und musste jedem Aktionär, der es wünschte, physischer Zugang gewährt werden. Mit einem entschlossenen Akt ermöglicht der Gesetzgeber es Aktiengesellschaften nunmehr, ihre Hauptversammlungen im Jahr 2020 komplett virtuell abzuhalten.

Dr. Christian Bochmann, LL.M. (Cambridge)
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„Kleine Lösung“ und „Große Lösung“

Die gesetzlichen Neuerungen stellen den Aktiengesellschaften eine „kleine Lösung“ und eine „große Lösung“ zur Auswahl.

Die „kleine Lösung“ besteht darin, dass der Vorstand nunmehr auch ohne die zuvor von § 118 Abs. 1 Satz 2 bis 5, Abs. 2 bis 4 AktG verlangte Satzungs- bzw. Geschäftsordnungsgrundlage entscheiden kann, die Teilnahme von Aktionären an der Hauptversammlung und die Stimmabgabe im Wege elektronischer Kommunikation, die Teilnahme von Mitgliedern des Aufsichtsrats im Wege der Bild- und Tonübertragung sowie die Bild- und Tonübertragung der Hauptversammlung zuzulassen (§ 1 Abs. 1 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie [„COVID-19-Maßnahmen-Gesetz“]).

Der Gesetzgeber stellt es darüber hinaus mit der „großen Lösung“ in das Ermessen des Vorstands, die Hauptversammlung als gänzlich virtuelle Hauptversammlung durchzuführen (§ 1 Abs. 2 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz). Die Teilnahme mithilfe elektronischer Kommunikationsmittel ist dabei nicht eine Form der Teilnahme, sondern die einzige. Die Aktionäre haben kein Recht auf physische Anwesenheit. Der physische Kern der Hauptversammlung ist auf Vorstand, Aufsichtsrat – dessen Mitglieder sich aber in der Kombination von § 1 Abs. 2 und § 1 Abs. 1 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 AktG ebenfalls ggf. lediglich elektronisch zuschalten – und den beurkundenden Notar reduziert. Voraussetzung ist freilich, dass eine Bild- und Tonübertragung der gesamten (virtuellen) Hauptversammlung erfolgt (§ 1 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz).

In beiden Varianten werden effektive Wege vorgezeichnet, um in Zeiten von Kontaktverboten und Versammlungsbeschränkungen Beschlussfassungen über die Ergebnisverwendung herbeiführen zu können und auch im Übrigen die Handlungsfähigkeit von Aktiengesellschaften zu gewährleisten. Denn gerade die akuten krisenhaften Entwicklungen dieser Tage dürften Entscheidungen erforderlich machen, die in die Zuständigkeit der Aktionäre fallen, etwa Kapitalmaßnahmen, Maßnahmen nach dem Umwandlungsgesetz oder auch Holzmüller-/Gelatine-Maßnahmen.

Während die Teilnahme an einer Hauptversammlung bislang mit dem Anmeldeprozess und der Anreise des Aktionärs verbunden war, kommt es nun auf intakte digitale Kommunikationsinfrastruktur, funktionierende Hardware und ein gewisses Maß an technischem Verständnis an. Was banal klingt, kann trotz solider Technik zu Komplikationen führen, wie selbst in kleineren Telefon- und Videokonferenzrunden immer wieder zu erleben ist. Der Gesetzgeber hat die Anfälligkeit der Technik im Einzelfall aber bedacht und ausdrücklich bestimmt, dass lediglich „die Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung erfolgt“. Ob etwas – und was – beim einzelnen Aktionär in seinem Hauptversammlungs-Homeoffice ankommt, fällt in dessen Risikobereich. Das ist dennoch ein tragfähiger Kompromiss zwischen den Interessen der Gesellschaft an der Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit und den Mitwirkungsrechten des einzelnen Aktionärs.

Flankierende Regelungen

Flankiert wird dieser gesetzgeberische Pragmatismus zur Aufrechterhaltung des „Hauptversammlungsbetriebs“ in außergewöhnlichen Zeiten durch die bei der „großen Lösung“– aber auch nur bei dieser – vorgesehenen Ersetzung des Rede- und Auskunftsrechts der Aktionäre i.S.v. § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG durch ein textförmiges Frage- und Antwortverfahren (§ 1 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 3 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz). Um Durcheinander und Regellosigkeit in der virtuellen Distanz vorzubauen, wird es in das pflichtgemäße Ermessen des Vorstands gestellt, welche der eingehenden Fragen er wie beantwortet. Ein Recht auf Antwort ist mit dem Fragerecht nicht verbunden. Da aber natürlich ein Interesse daran besteht, dass substanzielle Fragen auch sachgerecht beantwortet werden können und nicht in einer Flut von Belanglosem untergehen, kann der Vorstand vorgeben, dass Fragen bis spätestens zwei Tage vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz).

All die verfahrensmäßigen Vereinfachungen zur Durchführung von Hauptversammlungen wären praktisch wertlos, wenn die Aktiengesellschaften zu befürchten hätten, dass die präzisen Rechtmäßigkeitsgrenzen des neuen Verfahrens im Anschluss an die anstehende digitale Hauptversammlungssaison in durchaus analogen Beschlussanfechtungsstreitigkeiten ausprozessiert werden. Die Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen ist deshalb unbeschadet des § 243 Abs. 3 Nr. 1 AktG im Hinblick auf Verletzungen von § 118 Abs. 1 Satz 3 bis 5, Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 AktG sowie § 1 Abs. 2 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz ausgeschlossen, wenn der Gesellschaft nicht Vorsatz nachzuweisen ist. Insbesondere bei der „großen Lösung“ müsste also gezeigt werden, dass die Gesellschaft vorsätzlich die Bild- und Tonübertragung als solche nicht gewährleistet hat. Da § 1 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz dem Einzelnen weder ein „Recht auf Empfang“ noch ein „Recht auf Antwort“ einräumt, dürften jedwede Angriffe unter Verweis auf individuelle Rechtsbeeinträchtigungen aber unabhängig vom Verschuldenserfordernis ins Leere gehen.

Ausblick

Schon seit Jahren wird die virtuelle Hauptversammlung – allen voran von Ulrich Noack und Dirk Zetzsche – als Chance beschrieben, die Digitalisierung im Sinne der Aktionärsdemokratie fruchtbar einzusetzen. Die anstehende, mehr oder (hoffentlich) minder stark von der COVID-19-Pandemie geprägte Hauptversammlungssaison wird in gewisser Weise als Experimentierfeld zur Überprüfung jener These dienen. Wenn die digitale Hauptversammlung gleichwohl nicht umgehend in der Breite angenommen wird, so dürfte das in erster Linie daran liegen, dass der Gesetzgeber mit den Verfahrensvereinfachungen den Gesellschaften nicht nur einen Notfallplan bei unaufschiebbaren Hauptversammlungsentscheidungen an die Hand gegeben hat, sondern mit § 1 Abs. 4 und Abs. 5 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz auch eine Atempause in zwei wichtigen Aspekten: Der Vorstand kann auch ohne Satzungsermächtigung einen Abschlag auf den Bilanzgewinn nach Maßgabe von § 59 Abs. 2 AktG zahlen, und Hauptversammlungen können bis zum Ende des Geschäftsjahres stattfinden, sind also nicht an die Achtmonatsfrist des § 175 Abs. 1 Satz 2 AktG gebunden.

Die Vereinfachungen zur Hauptversammlung (und zur Zahlung von Gewinnabschlägen) sind gem. § 7 Abs. 1 COVID-19-Maßnahmen-Gesetz auf das Jahr 2020 beschränkt. Der aus der Not geborene rechtliche Modernisierungsschub im Hauptversammlungsrecht wird – und sollte (!) – gleichwohl richtungsweisend für die künftige Rechtsentwicklung sein. Das schließt freilich nicht aus, außerhalb der gegenwärtigen COVID-19-Krise den Aktionärsrechten in der virtuellen Hauptversammlung (wieder) stärkeres Gewicht einzuräumen und die (technischen) Verfahrensanforderungen hochzusetzen.