DER BETRIEB
An den Grundfesten

An den Grundfesten

Vom Koalitionsvertrag prophezeit, vom DGB gefordert, von Unternehmen herbeigesehnt und von Piloten gefürchtet. Nun ist er also endlich da: der Entwurf für ein Tarifeinheitsgesetz, der die derzeitige Misere lösen soll, in die uns Sparten-, Eliten- und Kleinstgewerkschaften geführt haben. Aber wird eine Umsetzung diese Abhilfe auch wirklich bringen?

Wie nicht anders zu erwarten war, ist der am 04.11.2014 vom Hause Nahles vorgelegte und zwischenzeitlich bereits wieder überarbeitete Entwurf sogleich von allen möglichen Seiten kritisiert worden. Das überrascht nicht, da der Entwurf nicht überrascht. Und so konnten die Betroffenen und scheinbar Betroffenen aus bereits ausgehobenen Schützengräben unmittelbar das Feuer eröffnen.

Groß schlägt Klein

Kernaussage der Arbeitsministerin ist, dass sich zukünftig derjenige Tarifvertrag in einem Betrieb durchsetzen soll, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in diesem Betrieb abgeschlossen wurde. Dieser Ansatz ist in der Vergangenheit bereits vielfach diskutiert worden. Natürlich rüttelt eine solche Idee, die großen Gewerkschaften gegenüber den kleinen zu bevorzugen, an den Grundfesten der Koalitionsfreiheit.

Ob die Kritik verfängt, werden die verfassungsgerichtlichen Verfahren zeigen. Denn dass diese eingeleitet werden, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Viel zu umstritten ist die Vereinbarkeit mit der Koalitionsfreiheit, wenn zukünftig ein Tarifvertrag durch einen anderen verdrängt werden soll, aber auch die Bedeutung für das Arbeitskampfrecht, das Betriebsverfassungsrecht und, und, und. Mit dem Mehrheitsprinzip wird – den Bedenken aller Verfassungsrechtler zum Trotz – die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie einer Gewerkschaft durch die Kampagnenfähigkeit und Mobilisierungserfolge einer anderen Gewerkschaft fundamental beschränkt.

Dass dies offenkundig auch zu praktischen Problemen führt, liegt auf der Hand. Da muss man die in der Praxis äußerst schwierigen Nachweisfragen (s. hierzu nur den Kommentar von Bauer, DB 2014 S. 2715) noch gar nicht erwähnen.

Geheimnis: Gewerkschaftzugehörigkeit

Der Entwurf bietet aber auch in anderer Hinsicht Gelegenheit zum Nachdenken.

Nach noch bestehender – wenn auch stark kritisierter – Ansicht des BAG handelt es sich bei der Gewerkschaftszugehörigkeit eines Arbeitnehmers um eines seiner geheimsten Geheimnisse. Es ist für den Arbeitgeber grundsätzlich verboten, ihn danach zu fragen (s. zuletzt etwa BAG vom 18.11.2014 – 1 AZR 257/13, DB0688239). Freilich muss er seine Mitgliedschaft spätestens dann kundtun – und auch nachweisen –, wenn er sich, ohne dass sein Arbeitsvertrag einen entsprechenden Verweis enthielte, auf Wohltaten aus einem bestimmten Tarifvertrag beruft.

Diese Verklemmung im Hinblick auf eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft mag ihre historische Entstehungsgeschichte haben. Sie ist jedoch weder zeitgemäß noch erforderlich und überdies einem unbefangenen gewerkschaftlichen Engagement nicht zuträglich.

Freilich liegt das BAG mit seiner bislang aufrecht erhaltenen Ansicht ganz auf der Linie anderer europäischer Staaten. Auch dort wird der Umstand der Gewerkschaftsmitgliedschaft eines Arbeitnehmers wie ein Staatsgeheimnis behandelt. So ist beispielsweise im deutlich liberaleren England die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit im Vorstellungsgespräch ebenfalls ein „No-Go“.

Auf dem Weg nach Amerika?

Anders ist dies allerdings in den USA. Hier findet der Wettbewerb der Gewerkschaften nicht in Auseinandersetzung mit Betrieb und Unternehmen statt. Erst, wenn eine Gewerkschaft es geschafft hat, die Mehrheit der Arbeitnehmer hinter sich zu formieren, erkennt sie der Arbeitgeber in der Regel an und kann sich auf sie als verbindlichen Ansprech- und Vertragspartner verlassen.

Auch wenn man manchmal das Gefühl bekommen könnte, die in Deutschland häufig reflexartig beschworene Angst vor „amerikanischen Zuständen“ hätte eine besondere Verankerung auf dem Feld des Arbeitsrechts, so liegt in dem durch den Referentenentwurf in Bezug genommenen Mehrheitssystem vielleicht gerade ein Schritt in die Richtung eines solchen amerikanischen Koalitionssystems, das Koalitionsfreiheit, Koalitionswettbewerb und Sicherheitsbedürfnis der Unternehmen gleichermaßen berücksichtigt. Denn nur Attraktivität und Augenmaß werden zu einer Mehrheit in der Belegschaft führen. Dies wäre dann ganz nebenbei auch ein Schritt in die Richtung einer Vereinheitlichung von Rechtskulturen, was einen Wert an sich darstellen würde.

Vorläufiges Fazit

Im Hinblick auf die derzeitigen politischen Verhältnisse ist nicht daran zu zweifeln, dass der aktuelle Entwurf ohne grundsätzliche Veränderungen im Laufe des kommenden Jahres seine Umsetzung finden wird.

Neben der oben schon genannten verfassungsgerichtlichen Überprüfung wird es vor allem spannend sein zu sehen, wie die unteren Instanzen das Gesetz interpretieren werden. Denn hier ist bewusst viel Spielraum gelassen worden. Die „Betätigungsfreude“ kleinerer Gewerkschaften dürfte allerdings zunächst ungebrochen bleiben. So leicht lassen sich Lokführer, Piloten und Ärzte nicht entmutigen!

RA/FAArbR Dr. Paul Melot de Beauregard, LL.M., ist Partner bei McDermott Will & Emery, München.